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Leseprobe "Das Hansaviertel: Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin"

Publikationen > Hansaviertel

Das Hansaviertel: Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin
Berlin: Verlag Bauwesen; 1999
ISBN13 978-3-345-00639-5

Leseprobe:

Gestaffelte Scheibenhochhäuser

... Mit seiner Schmalseite der Straße zugewandt, die Breitseite weithin sichtbar in einem locker von Bäumen durchsetzten Grünraum, wirkt ... (das Haus Niemeyer) sowohl im Lageplan als auch in der Ansicht wie eine Adaption der städtebaulichen Kompositionen Le Corbusiers für den Wiederaufbau von St. Dié und La Rochelle. Dort sollten Scheibenhochhäuser nach dem Maß der "Unité d'habitation de grandeur conforme" (Einheit angemessener Größe), die Corbusier von 1947 bis 1952 in seinem Experimentalbau in Marseilles verwirklichte, in großem Abstand voneinander eine Schnellstraße säumen, immer mit der Schmalseite zur Straße.

Haus Niemeyer Auch im architektonischen Entwurf ist die Ähnlichkeit zu Le Corbusiers "Unité d'Habitation" unverkennbar: Das Erdgeschoß ist als Luftgeschoß ausgebildet, der Unterboden ruht auf Pilotis (Stützpfeilern); an der Westseite sind, im Achsmaß der tragenden Wände, Loggien eingetieft; die westliche Hälfte des fünften Obergeschosses erscheint in der Fassade als geschlossenes Fensterband, hier sollte Raum zur gemeinschaftlichen Nutzung durch die Hausbewohner freibleiben. ... (Die Unité d'Habitation) sollte bekanntlich nicht nur Wohnungen, sondern auch Gemeinschaftseinrichtungen enthalten, und zwar nicht im Erdgeschoß, sondern weit oben, in der Mitte des Hauses. Niemeyer übernahm die Idee, verschob jedoch sein Gemeinschaftsgeschoß ins obere Drittel - wohl nicht nur aus erschließungstechnischen Gründen (obligatorischer Aufzugstop im fünften Obergeschoß), sondern auch aufgrund seines ästhetischen Konzeptes einer kunstvoll ausgewogenen Asymmetrie der Erscheinung. ...

Bei aller Ähnlichkeit zu Le Corbusiers Konzept, ist Niemeyers Berliner Haus in Konstruktion, Aufriß und Detailausbildung auch ein ganz eigener Entwurf. Es wurde in Schottenbauweise aus Schüttbeton errichtet. Das heißt, die tragenden Wände (Schotten) die zugleich die Zwischenwände der Wohnungen sind, wurden vor Ort in einem Zuge gegossen und nicht aus vorgefertigten Elementen montiert. Zu den Fassaden hin nimmt der Querschnitt der Schotten ab, so daß vor allem an der Westseite, wo sie zu den Trennwänden der Loggien werden, die Betonscheiben recht schlank erscheinen. Je zwei Schotten ruhen auf zwei V-förmigen Stützen (Pilotis), einer an der westlichen, einer an der östlichen Längsseite des Gebäudes. Der Raum dazwischen bleibt frei. Die Basen und die Tragarme der Pilotis sind angeschrägt und erscheinen nach unten bzw. nach oben verjüngt, so daß der Eindruck entsteht, als ob die beachtlichen Lasten des Gebäudes am Ende nur auf wenigen Punkten auflagerten. Die tragenden und lastenden Teile des statischen Gefüges sind somit beide an der Fassade in einer elegant verschlankten Ansicht gezeigt, eine baukünstlerische Wendung, die Le Corbusier ganz fremd gewesen wäre.

Niemeyer hatte bereits vor seiner Beteiligung an der Interbau mehrere Großprojekte in Schottenbauweise verwirklicht, bei denen er Gelegenheit hatte, die Konstruktion der Pilotis zu perfektionieren. ... Zur Stabilisierung des nur aus parallel stehenden Querwänden konstruierten und daher gegen Seitenschub empfindlichen Bauwerks setzte Niemeyer dem Ganzen ein geschlossenes Dachgeschoß auf, das optisch wie ein Deckel, statisch wie eine Auflast funktioniert.

Solch einen "Deckel" aus Stahlbeton erhielt auch das Berliner Haus. Im Inneren befindet sich, spärlich beleuchtet durch
schmale, dekorativ verteilte Lichtschlitze, ein nicht unterteilter Söller, den die Bewohner in Ermangelung von Kellern als
Stauraum benutzen. Auch der an der Rückseite aus dem Hauptgebäude herausgesetzten Aufzugturm hat seine Vorbilder in brasilianischen Projekten des Architekten, der sich wohl scheute, seine regelmäßigen Raumfolgen durch Aufzugsanlagen zu stören. In Berlin gestaltete er den freistehenden Aufzugsturm als extravagantes Schaustück mit dreieckigem Grundriß, die Betonwände mit kreisförmigen Glaseinschlüssen dekoriert, die Brücken zum Gebäude trapezförmig verbreitert.

Auf einer Zeichnung aus der Zeit um 1955 sind übrigens Brücken vom Aufzug zu sämtlichen Wohngeschossen angedeutet. Ein Aufzugszugang in allen Geschossen hätte allerdings nur in Kombination mit einer Mittel- oder Seitenflurerschließung Sinn gehabt, die aber mit der Anlage "durchgesteckter" Wohnungen, die von der Ostseite zur Westseite des Hauses reichen, unvereinbar wäre. So sind die Wohnungen mit insgesamt sechs innenliegenden Treppenhäusern erschlossen und zusätzlich mit dem Aufzug über das fünfte Obergeschoß erreichbar, das als lichtdurchflutetes Verteilergeschoß dient. Die hochgespannten Erwartungen an die gemeinschaftsstiftende Wirkung dieses halben Stockwerkes erfüllten sich nicht, was jedoch schwerlich dem Haus anzulasten ist. Die Gründe sind nur im Rahmen einer umfassenden Kritik der mit der Architektur der Moderne verknüpften Gesellschaftsutopien zu diskutieren, was am Ende dieses Buches erfolgen soll.

Noch während der Vorbereitung zur Interbau erhielt Niemeyer den Auftrag, Brasilia, die neu Hauptstadt im
Landesinneren Brasiliens zu planen, 1957 waren dort bereits einige seine Großbauten in Arbeit. Die Architekten und
Planer in der ganzen Welt - und nicht nur sie - nahmen seinerzeit Anteil am Fortgang des Hauptstadtbaus mitten im
Dschungel. So erklärt sich die im Berliner Volksmund tradierte Behauptung, Niemeyers Interbau-Haus sei termitensicher, nicht aus verstiegenen Erwartungen des Architekten an die Tierwelt im kalten Brandenburg, sondern aus dem Stolz der Berliner, ausgerechnet auf der politischen Insel West-Berlin dem großartigen Baugeschehen im fernen Lateinamerika ein wenig näher zu sein als andere.

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